Ein digitaler Zwilling (engl. digital twin) ist eine digitale Repräsentanz eines materiellen oder immateriellen Objekts aus der realen Welt in der digitalen Welt. Es ist unerheblich, ob das Gegenstück in der realen Welt bereits existiert oder zukünftig erst existieren wird. Digitale Zwillinge ermöglichen einen übergreifenden Datenaustausch. Sie bestehen aus Modellen des repräsentierten Objekts und können daneben Simulationen, Algorithmen und Services enthalten, die Eigenschaften oder Verhalten des repräsentierten Objekts beschreiben, beeinflussen, oder Dienste darüber anbieten.
Anfang des 21. Jahrhunderts wurde die Idee des digitalen Zwillings durch M. Grieves und J. Vickers zu einem Konzeptmodell des digitalen Zwillings weiterentwickelt, das sich aus drei Hauptteilen zusammensetzt:
den physischen Produkten im „realen Raum“,
den virtuellen oder digitalen Produkten im „virtuellen Raum“ und
den Daten- und Informationsverbindungen, die beide miteinander verbinden.
In der Vergangenheit ging es „nur“ um die digitale Abbildung bzw. Repräsentanz eines realen Objektes oder Prozesses (s. o.), in dem Konzept von Grieves und Vickers geht es auch um die Kommunikation zwischen dem realen und virtuellen Objekt, deshalb sprechen sie auch vom Digitalen-Zwillings-Konzept. Die Daten, die von dem realen zum virtuellen Objekt/Prozess fließen werden auch als digital shadow oder digitaler Schatten bezeichnet. Die Informationen, die vom virtuellen zum realen Objekt/Prozess fließen, werden auch als digital trigger bzw. digitaler Impuls bezeichnet. Aus dem Vergleich und der Analyse der Abweichungen zwischen den realen und virtuellen Objekten können die realen Objekte wieder aneinander angepasst und die Prozesse entsprechend reguliert werden. Führend in diesem Digitalen Zwillings-Konzept ist das virtuelle Objekt, dem das reale Objekt folgen bzw. sich anpassen muss. Bei technischen Anlagen kann aus den auftretenden Abweichungen eine Nachjustierung einer Anlagenkomponente oder bspw. auch eine vorausschauende Instandhaltung (predictive maintenance) abgeleitet werden. Bei Prozessen oder sich bewegenden Objekten können die Abweichungen durch die Veränderung der Steuerungsgrößen (s. a. Stellgröße) und/oder der Eingabeparameter entsprechend wieder angeglichen werden. Damit umfasst die Definition des Digitalen Zwillings mittlerweile auch die Steuerung auf Basis von Echtzeitdaten, sodass folgende Archetypen identifiziert werden können:
Basic Digital Twin
Digitale Repräsentation eines Objektes oder Systems mit internem Speicher und Datenverarbeitung
Enriched Digital Twin
Digitaler Zwilling mit Einbindung benachbarter Datenströme (Upstream)
Autonomous Control Twin mit Daten-Downstream in nachgeordnete Systeme
Exhaustive Twin
Autonomes, interoperables System, das Usern volle Eingriffsmöglichkeit gewährt und sowohl eingehende Daten einbindet als auch ausgehende sendet
Anwendungsbereiche
Der digitale Zwilling kann für unterschiedliche Zwecke entwickelt und in unterschiedlichen Bereichen eingesetzt werden.
Industrielle Fertigung von technischen Produkten
Für die Industrie hat der digitale Zwilling eine besondere Bedeutung. Seine Existenz und Nutzung in den Prozessen der industriellen Wertschöpfung kann für die Unternehmen ein entscheidender Wettbewerbsvorteil sein. Dies gilt insbesondere seit Anfang der 2010er-Jahre, seit das Internet der Dinge die Herstellung von digital gesteuerten und vernetzten Produkten aller Art mit integrierten Dienstleistungen möglich macht.
In der Industrie gibt es digitale Zwillinge beispielsweise für Produkte, Produktionsanlagen, Prozesse und Dienstleistungen. Sie können auch schon vor dem realen Zwilling existieren, zum Beispiel als Designmodelle künftiger Produkte und sie können dazu dienen, Daten aus dem Einsatz der realen Zwillinge zu analysieren und auszuwerten.
Ihr besonderer Wert für die Industrie ergibt sich aus der Einsparung physikalischer Prototypen und der Möglichkeit, Verhalten, Funktionalität und Qualität des realen Zwillings unter jedem relevanten Aspekt zu simulieren. Dieser Wert kann für alle Teile der Wertschöpfung über den gesamten Lebenszyklus von Produkten, Anlagen und Dienstleistungen genutzt werden.
Ein digitaler Zwilling nimmt verschiedenste Formen an. Er kann zum Beispiel beim Design von Systemen mit Hilfe von MBSE die verschiedenen Abstraktionsstufen zur Systemarchitektur durchlaufen, darüber hinaus auf einem Verhaltensmodell der Systementwicklung aufbauen, einem 3D-Modell oder einem Funktionsmodell, das mechanische, elektronische und andere Eigenschaften und Leistungsmerkmale des realen Zwillings im Lauf einer modellbasierten Ausgestaltung möglichst realistisch und umfassend abbildet.
Die unterschiedlichen digitalen Zwillinge können miteinander verknüpft sein und auch eine umfangreiche Kommunikation und Interaktion mit den realen Zwillingen erlauben. Man spricht auch von einem digitalen Faden (digital thread), der sich durch den gesamten Produktlebenszyklus zieht und noch weitere produktrelevante Informationen einschließen kann. Den größten Nutzen hat ein Unternehmen von solch einem durchgängigen digitalen Faden, der die Optimierung über verschiedene Wertschöpfungsprozesse hinweg erlaubt und die Ausschöpfung einer großen Palette von digitalen Geschäftsmodellen für Produkte oder angebotene Dienstleistungen.
Wenn dabei die große Anzahl von Abhängigkeiten zwischen System- und Produktarchitekturen, Varianten, Geschäftsmodellen und Dienstleistungen für das Produktportfolio strukturell und systematisch gehandhabt werden, kann der digitale Faden in den jeweiligen Lebenszyklen seine Leistungsfähigkeit umfassend entfalten für konsistente digitale Zwillinge.
Die Produktionstechnik ist nur eines von vielen industriellen Einsatzfeldern. Digitale Zwillinge bilden Anlagen über den gesamten Lebenszyklus (Design, Erstellung, Betrieb und Wiederverwertung) ab. Schon während der Planung können IngenieureSimulationsmodelle nutzen, um Abläufe zu optimieren. Ist die Anlage in Betrieb, können die gleichen Simulationsmodelle verwendet werden, um Abläufe weiter zu optimieren und um die Produktion zu wandeln.
In der Praxis existiert eine Vielzahl von Definitionen der Digitalen Zwillingen in der Produktion. Diese Definitionen richten sich dabei oftmals an verschiedene Zwecke (z. B. Wartungs-Szenarien) oder spezifische Domänen in der Produktion (z. B. Produktion von Batteriezellen). Diese Definitionen sind dabei nicht zwangsläufig kompatibel und können widersprüchlich sein.
Transportwirtschaft
Im Bereich der Transportwirtschaft und des Lagerwesens entwickeln Internationale Logistikunternehmen wie die DHL oder UPS laufend neue Anwendungen für den digitalen Zwilling wie Track and Trace oder die intelligente Steuerung von Lagerhäusern oder ganzen Hafenanlagen (s. Weblinks) und Software-Hersteller wie SAP oder Oracle erweitern ihre ERP-Systeme und bieten neue IT-Lösungen als Digital Supply Chain für das Supply Chain Management an.
Die Idee des digitale Zwillings findet auch in der Medizin zunehmend Verbreitung, indem ein virtuelles Abbild eines Patienten zur Simulation von medizinischen Anwendungen erstellt wird. So kann sich der Arzt bereits vor der Behandlung mit der konkreten Situation des jeweiligen Patienten auseinandersetzen und bei chirurgischen Operationen können dadurch patientenindividuelle Einsätze (z. B. künstliche Gelenke) vorgefertigt und genau eingesetzt werden, was ein verbessertes Operationsergebnis und einen schnelleren Genesungsverlauf ermöglicht. Digitale Zwillinge werden auch für die individualisierte Wahl von Arzneimitteln entwickelt, um einen besseren Behandlungseffekt für den jeweiligen Patienten zu ermöglichen.
Stadtentwicklung
Moderne Geoinformationssysteme (GIS) versprechen, Baubestände, Versorgungsnetze, Verkehrsdaten und weitere Informationen zu digitalen Zwillingen zusammenführen. Das Konzept ist eng mit Smart-City-Bestrebungen verbunden. Städte wie Barcelona und Zürich versprechen sich hiervon, Infrastruktur effizienter instand halten und Bürgerbeteiligung enger mit evidenzbasierten Verwaltungsmaßnahmen zusammenführen zu können. Auch wenn die Adaption des Paradigmas vielversprechende Potentiale auftut, wird das wohl nicht einlösbare Versprechen einer vollständigen digitalen Abbildbarkeit urbaner Systeme wissenschaftlich problematisiert.
Markus Kannwischer: Interaktive Präzisionswerkzeuge für die effizientere Bearbeitung. Produktivitätsfortschritte durch Industrie 4.0, VDMA, 2015/05.
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Einzelnachweise
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